Leseprobe: Der Klang der Glocken von Morshausen
Die Weihe der Glocken, 9. Mai 1926
„Jungfrauen! Zu mir!
Frauen! Reiht euch ein!“
Fräulein Anna Gräf rief ihre Gruppe zusammen. In ihrem grauen, städtischen Kostüm hob sie sich deutlich von der weit geschnittenen bäuerlichen Kleidung aus gewebtem Tuch, den weißen Kleidchen der jungen Mädchen, den schwarzen Röcken der verheirateten Frauen und der älteren Jungfrauen, ab.
Das Stimmengewirr legte sich, ging in leises Gemurmel über. Die letzten Frauen und auch noch ein paar der Männer bewegten sich durch die Grabsteine mit den Kreuzen darauf zum Eingang der Kirche St. Lambertus hin, hinter dem Portal verloren sich die schwarzen Silhouetten der Männer im matten Licht des Kirchensaals. Die Frauen verweilten bei Fräulein Gräf. „Schmitz’ Ännche“, so rief man sie im Dorf, wohl auch sprach man von ihr als „das Fräulein“, aus Respekt vor ihrem Beruf, denn sie war Lehrerin. „Schmitz’ Ännche“, eine der vielen Töchter aus dem Hause des Peter Gräf und Schwägerin des beliebten Lehrers Ryssel, war die einzige Frau im Dorf, die es so weit gebracht hatte! Sie lebte in Königswinter, den Haushalt versorgte ihre junge Nichte, Agnes. Aber Festtage und jede freie Zeit verbrachte sie in ihrem Elternhaus, trotz ihres Rangs war sie eine von ihnen geblieben. Keine andere hätte die Gruppe der Jungfrauen und der Frauen besser vertreten können als sie!
Trippelnden Schritts reihte sich, auf ihren Stock gestützt, auch die alte Trudel ganz vorne bei den Jungfrauen ein. Stolz richtete sie sich auf, schwankte ein wenig. Agnes stützte sie am Ellenbogen.
SWR-Landesschau am 11. Januar 2021 - anklicken
Autorin Leona Riemann
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