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Pandion-Verlag 2021

                                                       Rosel muss zum Zahnarzt - Allein von Kirn nach Rhaunen anno 1944

"Voilà, ma petite", sagte Henri, als sie schließlich in Kirn am Marktplatz hielten. Er lief um den Laster, öffnete die Beifahrertür und half ihr so charmant von dem hohen Sitz herunter auf die Straße, dass sie sich wünschte, alle in Rhaunen könnten so sein.

"Alles gut? Allez, halte Kopf hoch, bis morgän."

Sie schaute ihm nach, wie er mit dem Fahrzeug über die schadhafte Staße zum Bahnhof schaukelte und seufzte. Allein betrat sie die Praxis von Dr. Braun.

Was dann passierte, war genauso, wie sie befürchtet hatte - vielleicht ein bißchen schlimmer: Kaum hatte sie Platzgenommen, kippte Dr. Braun den Stuhl nach hinten , so dass sie zum Liegen kam. Augen und mund weit aufgerissen ließ sie Dr. Brauns Suche nach Löchern in den Zähnen über sich ergehen, hörte zu, wie er murmelte: "Oben rechts 2 gut, oben rechts 3 kariös, oben rechts 4 kariös ... Die Schwester notierte, was er sagte, auf einer großen Karte.

 


"Es geschah am 10. Mai 1972"

Pandion-Verlag 2022, herausgegeben vom Kunstverein Obere Nahe

                                                                                            Der Besuch

                                                Im Hause des angehenden Professors B., in einem hessischen Dorf 1972


Gudrun plapperte unentwegt, mal zu Baader: "Mach hier auf, mach da zu!", mal zu Gerhard - "Vielen Dank, bleib ruhig sitzen" - sie setzte sich breit in den Sessel und schlug die Beine übereinander, wirklich!  Es dauerte, bis wir alle halbwegs zur Ruhe kamen. 

Bei aller Nervosität waren die beiden sehr müde. Baader hatte Hunger, fragte, ob noch etwas übrig wäre für ihn.

Ich also ab in die Küche.

In der Zwischenzeit hörte ich sie im Wohnzimmer miteinander reden, aber  nichts zum Thema Politik, nichts zum Thema Ulrike und revolutionärem Kampf  und den ganzen Ereignissen der letzten Zeit, nur ein paar knappe Fragen von Baader und Gerhards Antworten darauf. Sie wollten wissen, wo sie schlafen sollten. Im Gästezimmer natürlich - das wollte Baader aber nicht: erstens, weil die Fenster Richtung Straße zeigten. Und zweitens wegen der schwarz-weißen Trine. Der große starke Revolutionär und seine Angst vor Trine, unserer großen dicken Landseer-Hündin.

Weißt du was? Da habe ich den Respekt vor ihm verloren!

(Anthologie Kunstverein Obere Nahe, 2022)


"NaheGlanz"

Pandion-Verlag 2023, herausgegeben vom Kunstverein Obere Nahe

                                                                                               Der Stanzer

                                                              Als Arbeiter bei Bengel, Idar-Oberstein, 1952

Seine Wohnung lag unmittelbar neben dem Fabrikhof. Das hatte Vorteile, nicht nur bei schlechtem Wetter. Er stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn er wie Jupp, der Heizer, morgens früh um 6 Uhr, nachdem er bereits das Vieh versorgt hätte, in einen dieser überfüllten Züge steigen und von außerhalb bis nach Oberstein fahren müsste! Jupp betrieb noch seine kleine Landwirtschaft mit Vieh, Wiesen und Parzellen voller Futterrüben für die Schweine und Kartoffeln für seine Familie sowie einen Kappesgarten, der von den Frauen der Großfamilie bestellt wurde. Früh morgens aufstehen, Stall misten, Vieh füttern, zwei Kilometer von Fischbach aus zum Bahnhof laufen, den Arbeiterzug nicht verpassen, der ihn nach Oberstein brachte. Das konnte einen Familienvater schon einige Zeit und Mühe kosten, von der Arbeit in der Fabrik mal abgesehen.

Oder Winnie, der neue junge Hilfsarbeiter an der Kettenmaschine. Selbst bei diesem Schmuddelwetter kam er von Nahbollenbach aus mit dem Fahrrad zur Arbeit.  Er hatte erst hier bei Bengel angefangen Um diese Jahreszeit musste er sein Fahrrad im Dunkel durch die Pfützen treten. Keinen Tag kam er mit trockener Kleidung in die Fabrikhalle. 

(Anthologie Kunstverein Obere Nahe 2023)


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